Nidwaldens Anschluss an die Welt: Die kühnen Visionen des Baudirektors Remigi Joller
Er war ein Vorkämpfer für die kantonale Eigenversorgung mit elektrischer Energie, brachte die Pilatus Flugzeugwerke AG nach Stans und stellte die Weichen für die späte Verkehrserschliessung des Kantons Nidwalden: Der Ausnahmepolitiker Remigi Joller (1891–1960) dachte gross und führte den agrarisch geprägten Halbkanton in der Mitte des 20. Jahrhundert aus der wirtschaftlichen Enge. Neu erschlossene Akten im Staatsarchiv Nidwalden geben Einblick in Vorstösse und Verhandlungen des streitbaren Magistraten.
Selbst für die Lösung des Verkehrsstaus am Gotthard gab es in den 1950er-Jahren ein «Projekt Joller»: Statt eines Autotunnels durch den wichtigsten Schweizer Alpenpass schlug der Nidwaldner Baudirektor Remigi Joller einen parallel geführten zweiten Bahnstollen vor, der einzig dem Autoverlad diente sollte. Die Idee sei bestechend und zeige einen «Staatsmann von überdurchschnittlichem Format», schrieb der Zürcher Tages-Anzeiger am 5. Mai 1955. Sie biete einen pragmatischen Ausweg aus der blockierten Debatte um die Anlage eines teuren und technisch anspruchsvollen Strassentunnels.
Für den Innerschweizer Wirtschafts- und Verkehrspolitiker war der transalpine Autotransit ein zentrales Element seines unermüdlich verfolgten Masterplans: der Verwirklichung der linksufrigen Vierwaldstätterseestrasse, die Luzern mit Flüelen verbinden, die Axenstrasse entlasten und den Ausbau der Nord-Süd-Achse von Basel nach Chiasso ermöglichen sollte. Seit den 1940er-Jahren kämpfte er für das Jahrhundertprojekt, das Nidwalden aus der wirtschaftlichen Enge führen und den entscheidenden Verkehrsanschluss an die weite Welt bringen sollte.
Kaum ein Politiker hat Nidwalden in der Mitte des 20. Jahrhunderts derart polarisiert wie der langjährige Landammann, Baudirektor und Ständerat Remigi Joller (1891–1960). Anfang der 1930er-Jahre betrat der parteilose Tuchhändler als energischer Vorkämpfer für die kantonale Eigenversorgung mit Elektrizität die politische Bühne. Zusammen mit seinen Mitstreitern Werner Christen und Kaplan Konstantin Vokinger brachte er das damals stark umstrittene Nidwaldner Elektrizitätswerk auf der Bannalp zur Durchsetzung – gegen den Widerstand von Bund und Kanton, die an der Rentabilität des Unternehmens zweifelten. Die einen lobten sein forsches Vorgehen und seine wortstarken Auftritte als «staatsmännisch», andere kritisierten seine «selbstherrliche» Gangart und sahen ihn, vor allem in den letzten Jahren seiner politischen Laufbahn, in rechthaberische Scharmützel und «taktlose» Angriffe auf Regierung und demokratische Institutionen verstrickt.
Unbestritten waren Jollers grosse Verdienste für die Modernisierung und den wirtschaftlichen Aufschwung Nidwaldens. Kaum war er 1934 in den Regierungsrat gewählt worden, machte er sich an die Überarbeitung von überholten Gesetzen und Verordnungen. In Eigenregie holte er 1939 die Pilatus Flugzeugwerke AG nach Stans, was dem strukturschwachen Kanton Arbeitsplätze und eine noch nie dagewesene Baukonjunktur bescherte. Schon fast obsessiv nutzte er die Arbeitsbeschaffungsprogramme des Bundes, um den Infrastrukturausbau voranzutreiben: Die Korrektion von Kantonsstrassen, Wildbachverbauungen und auch grossräumige Meliorationen wurden in der Ära Joller mit Bundessubventionen durchgeführt – so etwa die «Kolmatierung» des Stansstaderrieds, die Schaffung von Siedlungsraum mit Seeblick am Ufer des Alpnachersees.
In der Nachkriegszeit machte Joller die Verwirklichung der «Linksufrigen» zu seinem Hauptanliegen. Innerhalb wie auch ausserhalb des Kantons waren dafür beträchtliche Hürden zu nehmen. Der Ausbau der Strasse drohte anfänglich auf Kosten der Schiene zu gehen. Mit Ausnahme von Hergiswil hatten die Nidwaldner Gemeinden in der Mitte des 20. Jahrhundert noch keine Verbindung zum SBB-Netz. Aus Bern kam der Vorschlag, die vom Konkurs bedrohte Stansstad-Engelbergbahn, die damals noch an den Dampfschiffverkehr aus Luzern anschloss, durch einen Postautodienst zu ersetzen. Wie die Akten im Staatsarchiv Nidwalden zeigen, war es massgeblich das Verdienst des Bundesparlamentariers Joller, den Hauptstrassen- und Autobahnbau, die Sanierung der Bahn wie auch die Zustimmung zum Millionenkredit zu einem Abstimmungspaket zu schnüren. Am 25. April 1954 stimmte die Landsgemeinde allen drei Vorlagen eindeutig zu. Die politischen Weichen für die «Gesamtsanierung der Verkehrsverhältnisse», die vom Kleinkanton einen enormen Investitionsaufwand erforderte, waren gestellt.
Geballten Widerstand erfuhr das Vorhaben vor allem bei den konkreten Umsetzungsplänen. In Hergiswil opponierten Anwohner und Gemeinde gegen die überdimensionierte Planung, gegen Enteignung und Kulturlandverlust. In Stansstad tauchten konkurrierende Pläne auf für die Überbrückung der Seeenge bei der Acheregg. Joller, der es gewohnt war, sich mit seinen übergeordneten Zielen über «Parteiinteressen» hinwegzusetzen, verlor zunehmend den Rückhalt bei den Gemeindevertretern im Kantonsparlament. An der Landratssitzung vom 23. Oktober 1957 gelang es ihm nicht einmal mehr, die Projektvorlage des eidgenössischen Oberbauinspektorats in die Vernehmlassung zu bringen. Die Fronten gegen den Baudirektor, der seine Geschäfte wie ein «selbsternannter König» führe, waren gemacht. Nach einer furiosen medialen Rechtfertigungskampagne gab Joller 1958 seinen Rücktritt bekannt. Für den Fortbestand seiner Ideen war gesorgt: Mit dem neuen Baudirektor August Albrecht (1907-1988), langjähriger Direktor des Nidwaldner Elektrizitätswerks, stand ein Nachfolger bereit, der das Grossprojekt «Sanierung der Verkehrsverhältnisse» wieder auf Kurs brachte.
Handakten aus dem «Homeoffice» von Remigi Joller sind bereits 1999 und 2012 in das Staatsarchiv gelangt – noch im 20. Jahrhundert arbeiteten die meisten Nidwaldner Regierungsräte im Nebenamt und verfügten nicht über Direktionsbüros in Verwaltungsgebäuden. Im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts wurde nun auch die Projektdokumentation aus dem Bauamt gesichtet, erschlossen und zugänglich gemacht. Die dichte Überlieferung der Ära Joller bietet eine spannende Ausgangslage, um die herausragenden Leistungen und die nicht minder legendären Fehltritte des umtriebigen Nidwaldner Bau-, Verkehrs- und Energiepolitikers kritisch zu durchleuchten, in den zeitgenössischen Handlungskontext einzuordnen und letztlich auch zu würdigen.
Monika Burri