Ämterkumulation, Milizsystem, «Gmeindligeist»: Der Landschreiber erklärt das Nidwaldner Staatswesen
Bis zur Revision der Kantonsverfassung 1965 herrschte in Nidwalden Rechtsunsicherheit. Trotz mehreren Anläufen war es nicht gelungen, eine systematische Sammlung der im Kanton geltenden Gesetze und Verordnungen anzulegen. Wertvoll ist deshalb die Sammlung von Auskunftsschreiben des Nidwaldner Staatsschreibers Bruno Amstad aus den Jahren 1955-1966. Darin erläutert der langjährige Landratssekretär und spätere erste Landschreiber praktiziertes wie auch fehlendes Recht im damaligen Nidwaldner Staatswesen.
«Sie ersehen aus dem vorstehenden […], dass unsere ganze Staatorganisation ziemlich unverbindlich und variabel ist», schrieb der Nidwaldner Landschreiber II (heute: Landratssekretär) Bruno Amstad am 4. Oktober 1960 an Alt-Bundesrat Rodolphe Rubattel. Der eidgenössische Wirtschaftsminister im Ruhestand hatte sich bei der Staatskanzlei erkundigt, ob es im Kanton Dienste und Aufgaben gäbe, die von einem Departement zum anderen wechseln und – falls ja – welche Erfahrungen man mit diesen «services flottants» gemacht habe.
Hinsichtlich flexibler Regierungs- und Verwaltungsorganisation konnte der Nidwaldner Staatsschreiber aus dem Vollen schöpfen. Nicht nur fehlte dem Kanton bis 1967 ein Organisationsgesetz. Die damals neun Regierungsräte arbeiteten, mit Ausnahme des Baudirektors, lediglich im Nebenamt. Departemente und Dienststellen wurden nach Arbeitslast und «persönlicher Vertrautheit mit dem Aufgabenbereich» verteilt. Bisweilen spielte auch eine einigermassen ausgewogene Entlöhnung eine Rolle. «Eigentliche Nachteile in unserem Modus sehen wir kaum», fasste Amstad zusammen. «Es ist eben […] so, dass die Kleinen immer etwas improvisieren, von der Hand in den Mund leben, sich nach ihren gegebenen Möglichkeiten einrichten müssen. Dass bei uns nicht alles und jedes reglementiert und schablonisiert ist, empfinden wir selber nicht als Nachteil, sondern in gewissem Sinne als Bestandteil unserer bürgerlichen Freiheit.»
Freiheit bedeutete im Nidwaldner Staatswesen allerdings auch Rechtsunsicherheit. Zur schwach reglementierten Regierungs- und Verwaltungsorganisation gehörte auch, dass der Kleinkanton bis zur Verfassungsrevision von 1965 keine aktuelle systematische Gesetzessammlung aufwies. In den Jahren 1890, 1892 und 1908 war erstmals eine vollständige gedruckte Sammlung des kantonalen Rechts in drei Bänden erschienen. Davor hatte es nur die handgeschriebenen Landbücher gegeben – das erste von ca. 1510, das letzte von 1806 (mit Nachträgen bis 1857). In diesen wurden die von der Landsgemeinde beschlossenen Gesetzesartikel einzeln verzeichnet.
1916 erhielt der Landrat den Auftrag zu einer Neuauflage der kantonalen Gesetzbücher. Ein erster überarbeiteter Band erschien erst 1943 und blieb ohne Fortsetzung. Alle weiteren Erlasse wurden als Einzeldrucke in nummerierter Reihenfolge publiziert. Selbst für Anwälte war es schwierig, sich einen Überblick über aktuelles und noch geltendes Recht zu verschaffen. Umso gefragter waren die Rechtsauskünfte der Staatskanzlei.
Staatsrechtliche Umfragen von Bund und Kantonen, Erkundigungen aus dem Ausland wie auch Anfragen von angehenden Rechtsgelehrten wurden vom Staatsschreiber persönlich beantwortet. Von Bruno Amstad (1916–2009), von 1948 bis 1966 zweiter und von 1966 bis 1981 erster Landschreiber des Kantons, ist eine Sammlung von Auskunftsschreiben überliefert, die erhellende und anschaulich geschilderte Einblicke in das Rechtsverständnis und die Rechtspraxis Nidwaldens gewähren.
So etwa erläuterte Amstad einem belgischen Juristen, der sich nach den Möglichkeiten von Gemeindefusionen erkundigte, den «eigenartig komplizierten Gemeindeaufbau» Nidwaldens und die in der Kantonsverfassung verankerte «ganz ausgeprägte Gemeindeautonomie». Auch wenn die vielfältige Aufsplitterung des Gemeindewesens in Bezirks-, Armen-, Schul-, Kirch- und Filial (Kapell)-Gemeinden von fern als «unpraktisch», «unökonomisch» oder gar «unvernünftig» erscheinen möge, erkläre sie sich «aus dem selbstbewussten Stolz selbst des kleinsten Gemeinwesens». Dieser könne allerdings auch «ins negative Extrem» ausschlagen, zum «Chauvinismus» werden, oder – wie man in Nidwalden zu sagen pflege – zum «Gmeindligeist».
Die überlieferten Rechtsauskünfte, bestehend aus Briefanfragen und Kopien der Antwortschreiben, decken eine breite Themenpalette ab: das «unzeitgemäss strenge» Nidwaldner Tanzgesetz von 1928, noch zu Beginn der 1960er-Jahre gültig, kommt darin ebenso zur Sprache wie die in Nidwalden gängige Ämterkumulation, die kaum problematisierte Vereinbarkeit von Staatsanstellung und Bekleidung eines politischen Amts.
Wiederholt musste der Landschreiber einräumen, dass zu den angefragten Gesetzesthemen keine Bestimmungen vorliegen, dass das formell geltende Recht noch aus dem 19. Jahrhundert stamme oder dass Vollzugsverordnungen schon seit Jahren auf sich warten liessen. Als profunder und ausgewogener Kenner der Nidwaldner Rechtsverhältnisse war Amstad auch Mitglied der landrätlichen Kommission, die 1963 schliesslich eine Neuherausgabe der kantonalen Gesetzessammlung in die Wege leitete. Bei der Überprüfung der Gesetzestexte kamen derart viele überholte wie auch widersprüchliche Verordnungen und Erlasse zum Vorschein, dass die Gesetzbuchkommission den massgeblichen Anstoss zur Totalrevision der Kantonsverfassung von 1965 gab.
Monika Burri