Diebstahl, uneheliche Mutterschaft und Schlägereien
Gerichtsakten sind wichtige rechts- und sozialgeschichtliche Quellen. Gleichzeitig geben sie Einblick in menschliche Dramen und Abgründe. Im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts wurden umfangreiche Fallakten von Nidwaldner Gerichtsinstanzen erschlossen.
Am 23. November 1904 musste sich der Taglöhner Alois Achermann vor dem Nidwaldner Kantonsgericht verantworten. Er war dabei ertappt worden, wie er versuchte, den Opferstock im Beinhaus der Pfarrkirche Buochs zu leeren. Als «Angel-Apparat» diente ihm ein Faden mit einem Bleischeibchen, das er «mit einer klebrigen Substanz» bestrichen hatte. Der Angeklagte war schon mehrfach vorbestraft. Für den Diebstahlversuch in der Kirche Buochs wurde er zu einer Geldstrafe und drei Monaten Strafkorrektionshaus (Gefängnis) verurteilt. Zudem musste er die Untersuchungs- und Gerichtskosten übernehmen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam das Nidwaldner Kantonsgericht rund zehn Mal pro Jahr zusammen, um Straffälle zu behandeln. In der ländlichen Gesellschaft mit hohen Armutsrisiken gehörten Betrug, Diebstahl und Entwendung zu den häufigen Delikten. Oft wurde zudem über aussereheliche Schwängerung und Mutterschaft, Holzfrevel (unerlaubtes Holzschlagen) und Amtsehrverletzungen, Verstösse gegen das Wirtshausgesetz, Trunkenheit sowie Schlägereien mit Körperverletzung geurteilt. So etwa lauerte der Schiffsarbeiter Josef Murer nach einem Wirtshausbesuch in Beckenried im April 1905 drei deutschen Gästen auf. Er versetzte den Herren derart wuchtige Kopfschläge mit einer Holzlatte, dass diese «niederfielen und einen Augenblick die Besinnung verloren». Als Grund für den gewalttätigen Überfall gab Murer an, er sei von den Fremden als «Kuhdreckschweizer» beschimpft worden.
Zu einer Geldbusse und drei Franken Gerichtsgeld wurde am 14. Juni 1905 auch der Präsident des Konsumvereins Stans verurteilt – wegen «unrichtiger Qualifizierung eines Lebensmittels». Im neu eröffneten Verkaufslokal in der Rosenburg in Stans hatte der Konsumverein «mit Sesamöl vermischtes Kochfett» als «gesottene reine Nidelbutter» angeboten. Da der Verkaufspreis dem tatsächlichen Produkt entsprach, wurde der Vorwurf des gewerbsmässigen Betrugs aber fallen gelassen.
Häufiger noch als für Strafprozesse kam das Kantonsgericht für die Behandlung von Zivilstreitigkeiten zusammen. Das 1877 gegründete Gremium beurteilte strafrechtliche wie auch zivilrechtliche Angelegenheiten in zweiter Instanz. In den zivilen Zwistigkeiten waren alle Lebensbereiche vertreten. Besonders häufig wurde um Geld- und Zinsforderungen gestritten, um Erbschaften, Weg- und Holzrechte, Ehescheidungen oder Ehrverletzungen. Injurien bezogen sich nicht selten auf die Vaterschaft von ausserehelichen Kindern – so etwa stand die kämpferische Josefine Inderbitzin-Zumbühl im Dezember 1906 vor dem Kantonsgericht, weil sie den Namen des Kindsvaters auf den Grabstein ihrer früh verstorbenen unehelichen Tochter meisseln liess – obwohl diese Vaterschaft nie gerichtlich festgestellt worden war.
Im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts wurden rund 10 Laufmeter Fallakten verschiedener kantonaler Gerichtsinstanzen aus den Jahren 1877 bis 1920 gesichtet, geordnet und erschlossen. Sie dokumentieren die Nidwaldner Gerichtspraxis und geben aufschlussreiche Einblicke in sozialgeschichtliche Verhältnisse wie auch in menschliche Dramen und Abgründe.
Monika Burri