Aus dunklem Kapitel der Sozialgeschichte ist ein Buch entstanden

24. Oktober 2024

Zum Abschluss eines aufwändigen Forschungsprojekts wird am 10. November das Buch «Gegen das Vergessen» vorgestellt. Es rückt die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, die im 20. Jahrhundert auch in Nidwalden viel Leid verbreiteten, ins Bewusstsein der Gesellschaft. Menschen wurden in ihren Grundrechten verletzt, ihrer Freiheit beraubt und misshandelt.

«Wir stehen in der Verantwortung, das Geschehene nicht nur anzuerkennen, sondern auch dafür zu sorgen, dass solches Unrecht nie wieder geschieht.» Mit diesem Satz schliessen Landammann Res Schmid und Gesundheits- und Sozialdirektor Peter Truttmann ihr gemeinsames Vorwort im Buch «Gegen das Vergessen». Die Bucherscheinung ist das Ergebnis einer rund zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im 20. Jahrhundert, die in Nidwalden viel Leid verursachten. Frauen und Kinder, aber auch Männer, Alte und Kranke mussten gravierende Menschenrechtsverletzungen erdulden. Insbesondere wer aus der sozialen Unterschicht stammte und nicht den Normen entsprach, wurde in Armen- und Waisenhäuser gesteckt, in Arbeitsanstalten «versorgt» oder willkürlich zur Adoption freigegeben. Dabei erfuhren Betroffene oft Gewalt, Demütigungen und Missbrauch. Die Forschung zeigt auch auf, dass es in den Anstalten viel zu wenig Betreuungspersonal gab, was zu dessen dauernder Überforderung führte. Aber auch die gesellschaftlichen Hierarchien trugen zu den Missständen bei. «Es ist wichtig, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Forschungsarbeit trägt dazu bei, den Blick auf soziales Unrecht, Menschenrechtsverletzungen und Formen der Ausgrenzung zu schärfen und diese zu bekämpfen», ist Regierungsrat Peter Truttmann überzeugt.

Der Anstoss zum Forschungsprojekt erfolgte 2013, als die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga an einem Gedenkanlass die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Namen der Landesregierung um Entschuldigung bat und die Kantone dazu aufrief, dieses dunkle Kapitel der Sozialgeschichte aufzuarbeiten. Auf späteres Nachhaken einer Betroffenen, wie Nidwalden gedenke, diesen Auftrag umzusetzen, konkretisierte das Staatsarchiv im Auftrag des Regierungsrats und mit Unterstützung des Historischen Vereins Nidwalden das Vorhaben. Einstimmig bewilligte der Landrat in der Folge einen Kredit in der Höhe von 360'000 Franken, um das Thema breit zu beleuchten und aufzuarbeiten. Am Kredit beteiligten sich auch alle elf Gemeinden und beide Landeskirchen. Für das Projekt konnte die Universität Bern engagiert werden, als Autorinnen wirkten die Historikerinnen Sonja Matter und Tanja Rietmann. Aus Akten in Staatsarchiven und Archiven von Gemeinden, Klöstern und Kirchen sowie aus Gesprächen mit Betroffenen setzten sie Puzzleteil um Puzzleteil zusammen. Ziel war es, eine Publikation herauszugeben, damit das begangene Unrecht nicht in Vergessenheit gerät.

Betroffene erzählen von ihren Erfahrungen
Nun liegt das 240-seitige, reich bebilderte Buch vor und wird am 10. November 2024 in Stans der Öffentlichkeit vorgestellt. Herausgegeben wird es im Verlag des Historischen Vereins Nidwalden. Vereinspräsidentin Brigitt Flüeler sagt: «Zu lange haben wir alle nicht wahrhaben wollen, was die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erlitten haben. Das Buch soll ein Mahnmal gegen das Vergessen sein, weshalb unserem Verein von Anfang klar war, das Projekt zu unterstützen.» Besonders unter die Haut gingen Schilderungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die das damalige Regime über sich ergehen lassen mussten. So betont Projektleiterin und Autorin Sonja Matter, welche die Interviews mit Betroffenen führte: «Das Teilen der eigenen, oft schmerzhaften Geschichte braucht Zeit, Kraft und Vertrauen. Die Bereitschaft dazu ist nicht selbstverständlich.» Auch wenn dadurch keine Wiedergutmachung möglich ist, so haben Betroffene doch geäussert, dass ihnen der Umgang mit ihrem Schicksal leichter fällt, wenn sie durch das Buch eine Stimme erhalten und ihnen zugehört wird. «Wir schätzen die Unterstützung, die wir bei unseren Recherchen in Nidwalden erfahren haben. Einerseits bei unserem Aufruf nach Betroffenen, andererseits bei den Archiven, die uns Zugang zu wichtigen schriftlichen Quellen ermöglicht haben», so Sonja Matter weiter.

«Wenn wir die Stimmen der Betroffenen ernst nehmen und aus den Fehlern von damals lernen, können wir helfen, Wunden zu heilen. Wir hoffen, dass den Menschen mit diesem Buch die Bedeutung und Wichtigkeit von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit in der Gemeinschaft in Erinnerung gerufen wird», hält Judith Odermatt-Fallegger, Gemeindepräsidentin von Oberdorf, fest. Als Vorsitzende der Gemeindepräsidentenkonferenz war sie ebenso Teil der Projektaufsicht wie die Präsidentin der römisch-katholischen Landeskirche, Monika Rebhan Blättler, als Vertreterin beider Landeskirchen. «Wir können das Leid, für welches auch kirchliche Institutionen in dieser Zeit mitverantwortlich waren, nicht ungeschehen machen. Aber wir können Verantwortung dafür übernehmen», betont sie, um zu ergänzen: «Solche Forschungsprojekte sind enorm wichtig, um Missstände aufzudecken und diese aufzuarbeiten. Das ermutigt Menschen in Zukunft, bei Unrecht nicht wegzusehen, sondern aktiv dagegen vorzugehen und ihre Mitmenschen zu
unterstützen.»
 

Buchvernissage «Gegen das Vergessen»

Die Buchvernissage findet am Sonntag, 10. November 2024, um 16.00 Uhr im Pestalozzisaal in Stans statt. Der Anlass ist öffentlich, der Eintritt kostenlos. Das Buch ist ab 11. November 2024 beim Verlag des Historischen Vereins Nidwalden (www.hvn.ch) sowie bei Bücher von Matt in Stans erhältlich. Der Preis beträgt 55 Franken, für HVN-Mitglieder 40 Franken. Herausgeber ist der Kanton Nidwalden. Die Auflage beträgt 1500 Exemplare.

 

Bild von Buchtitel und Innenseite
Das Buch Gegen das Vergessen ist ab dem 11. November beim Historischen Verein Nidwalden sowie bei der Bücherei von Matt in Stans erhältlich.

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