Zutrauen in Wissenschaft, Behörden und Gottvertrauen: Pandemie-Bekämpfung im 19. Jahrhundert
Seit Jahrhunderten forderten Seuchen koordiniertes staatliches Handeln heraus. Insbesondere die Cholera, die «neue Pest» des 19. Jahrhunderts, führte zu Verbesserungen der hygienischen Verhältnisse und zu grenzüberschreitenden Schutzmassnahmen. Auch die Nidwaldner Gemeinden verfügten ab den 1890er-Jahren über einen Krisenstab zur Seuchenbekämpfung – zumindest auf Papier, wie neu erschlossene Akten im Staatsarchiv zeigen.
1831 veröffentlichte der Nidwaldner Sanitätsrat «Vorsichtsmassregeln zur Abhaltung der asiatischen Brechruhr (Cholera morbus)»: Krankheitsfälle wie auch Personen mit verdächtigen Symptomen mussten den Behörden gemeldet werden. Fremdenunterkünfte waren regelmässig zu reinigen und zu kontrollieren. Reisende aus Seuchengebieten mussten Zeugnisse von Aufenthalten in Quarantäne-Stationen vorweisen. Umgekehrt waren für Reisen ins Ausland wie auch für die Ausfuhr von Vieh und Waren Zertifikate zu besorgen, die die Erklärung aufwiesen, «dass in unserem Kanton nicht der geringste Verdacht von der asiatischen Cholera obwalte». Die Verordnung folgte den Vorgaben der eidgenössischen Tagsatzung und entsprach den damals gebräuchlichen Massnahmen zur Seuchenbekämpfung.
Mit zunehmendem Handel und wachsender Mobilität traten zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrt weltweite Pandemien auf. Eine rasante Verbreitung fand vor allem die Cholera. Eine Infektion mit dem ursprünglich asiatischen Erreger verursachte Durchfall und Erbrechen und konnte innert Stunden zum Tod führen. Europa wurde von der ersten Welle verschont, wurde aber in den Jahren 1830–1838, 1847–1855 und 1864–1867 von heftigen Seuchenzügen erfasst. Angesichts dieser Gefahr fand auch der konfessionell und politisch tief gespaltene eidgenössische Staatenbund noch vor der Bundesstaatsgründung 1848 zu konkordanten Schutzmassnahmen zusammen.
Dabei waren die Verbreitungswege der Krankheit höchst umstritten. Vor und lange nach der Entdeckung des bakteriellen Erregers durch Robert Koch im Jahr 1883 tobten wissenschaftliche Kontroversen um die Ursachen der Cholera und die wirksamsten Massnahmen zu deren Bekämpfung. Die Kontagionisten stellten die Übertragbarkeit der Krankheit (lat. «contagio», Berührung) ins Zentrum und verlangten nebst Isolierung und Meldepflicht eine systematische Kontrolle und Beschränkung des Reiseverkehrs. Die Miasmatiker hingegen machten Unrat und Giftschwaden («Miasmen») für die Epidemien verantwortlich und forderten vor allem Verbesserungen der hygienischen Verhältnisse. Beim Grundsatzstreit ging es nicht zuletzt um wirtschaftliche Interessen: Kritisiert wurde insbesondere die Zweckmässigkeit der Quarantäne, die Waren, Tiere und Händler über Tage bis Wochen blockierte.
Zu Ausbrüchen der gefürchteten Durchfallkrankheit kam es in der Schweiz vor allem in städtischen Gebieten. In Zürich forderte die Cholera 1867 über 500 Tote und gab Anstoss zur sofortigen Umsetzung der bereits geplanten «Kloakenreform», der Einführung eines Kübelsystems für die Beseitigung der Fäkalien. Die Nidwaldner Regierung hoffte derweil, «der liebe Gott werde unserem Kanton auch ferner seinen Schutz angedeihen lassen und ihn mit dieser Zuchtrute gnädig verschonen». In der Bekanntmachung betreffend die Cholera vom 24. September 1867 rief sie zum Zutrauen in die Behörden auf und zur sorgfältigen Befolgung der Massregeln, «welche Vernunft und Wissenschaft lehren».
Das erste Bundesgesetz zur Seuchenbekämpfung von 1886 wurde erst in revidierter Fassung gutgeheissen, nachdem der Zwang zur zeitgleich entwickelten Pockenimpfung aus der Vorlage gestrichen worden war. Es kombinierte die widerstreitenden wissenschaftlichen Ansätze und nahm Kantone und Gemeinden in die Pflicht: Für Cholerakranke wie auch für gefährdete Personen mussten Absonderungs- und Aufnahmehäuser bestimmt werden. Jede Gemeinde hatte eine Gesundheitskommission zu ernennen, einen verantwortlichen Arzt wie auch instruiertes Personal für Pflege und Krankentransport. Weiter mussten für dicht genutzte Einrichtungen wie Wirtshäuser, Schulen, Gefängnisse, Fabriken, Armenhäuser, Spitäler, Eisenbahnen und andere Transportanstalten genügend Desinfektionsmittel zur Verfügung stehen. Zudem war die Trinkwasser- wie auch die Abwasserversorgung auf hygienischen Stand zu bringen.
Die Nidwaldner Gemeinden kamen der Aufforderung nach, wie die nun erschlossenen Akten im Staatsarchiv Nidwalden zeigen: 1893 rapportierten die Gesundheitskommissionen die getroffenen Vorkehrungen und die Ergebnisse ihrer Inspektionen dem kantonalen Polizeidirektor, der zugleich Präsident des Sanitätsrats war. «Eigentliche Missstände finden sich keine in unmittelbarer Nähe der Dorfhäuser», berichtete etwa der Landarzt und spätere Regierungsrat Jakob Wyrsch (1842-1933) aus der Gemeinde Buochs. «Dagegen trifft man an einigen Orten Compoststöcke und -behälter aus Kehricht und ausgerottetem Unkraut bestehend, die wir aber als weniger gefährlich erachteten, als Haufen thierischer Abfälle.» An neuralgischen Stellen wurde das Anbringen von Deckeln und Verschlüssen angeordnet, die Desinfektion von Aborten wie auch das fleissige Entleeren von Jauchegruben. Das grösste Problem stellte die Trinkwasserversorgung dar, die vielerorts noch aus offenen Quellbächen erfolgte.
Während die Nidwaldner Gemeinden ihre Krisenstäbe für die Epidemiebekämpfung bestimmt hatten, kam die Einrichtung eines kantonalen Absonderungshauses nicht über eine Skizze hinaus. Auf Druck von lokalen Ärzten wurde 1907 eine Kommission bestellt, um Pläne und Kostenvoranschläge auszuarbeiten. Auch ein Bauplatz wurde ausgeschieden in der Nähe des Stanser Armen- und Waisenhauses im Mettenweg (heute Buochserstrasse 45). In der Folge blieb das Projekt bei der Baukommission liegen, wie der Sanitätsrat 1911 konstatieren musste. Aber auch bei den Bundesbehörden befand sich einiges erst im Konzeptstadium: Als Nidwalden zumindest eine Isolierbaracke aus dem Prospekt des schweizerischen Gesundheitsamts bestellen wollte, musste dieses einräumen, nicht im Besitz von solchen zu sein.
Die Cholera schärfte den Blick für problematische hygienische Verhältnisse und förderte die Übernahme international abgestimmter Schutzmassnahmen. Vom Ernstfall, dem Ausbruch der Spanischen Grippe 1918/1919, wurde die Schweiz dann trotzdem überrascht: In der geltenden Seuchengesetzgebung kam die Influenza nicht vor. Mit einem tödlichen Grippevirus hatte niemand gerechnet. Von Beginn weg wurde die Bekämpfung der Grippeepidemie, die die Schweiz im Nachgang des Ersten Weltkriegs erfasste, den Kantonen und Gemeinden überlassen. Deren Abwehrdispositive existierten zwar auf Papier, entbehrten im entscheidenden Moment aber der Gesetzesgrundlage. Schon damals mussten die Massnahmen im Krisenmodus umgesetzt und dabei laufend überprüft, angepasst und weiterentwickelt werden.
Monika Burri