Reich an Almosen: das Nidwaldner Siechenhaus
Beim alten Richtplatz im Stanser Niederdorf befand sich das Nidwaldner Siechenhaus, das im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit der Absonderung und Pflege von Leprakranken diente. In den bisher unerschlossenen Akten des Staatsarchivs ist eine Geschichte dieser Anstalt zum Vorschein gekommen, verfasst im frühen 19. Jahrhundert. Sie dokumentiert die Praxis der Ausgrenzung und zeigt den eindrücklichen Vermögenszuwachs des Ausgestossenenheims.
Seit dem frühen Mittelalter entstanden auf dem Gebiet der heutigen Schweiz Krankenhäuser, die der Unterbringung von Leprakranken dienten. Im Unterschied zu den Pestepidemien, die Tausende von Menschenleben forderten, war die Lepra auf Einzelfälle beschränkt und selten tödlich. Bei fehlender Behandlung griff die Infektionskrankheit Haut und Schleimhäute an und führte zu grausamen körperlichen Entstellungen.
Für die Betroffenen bedeutete der Ausbruch der Krankheit jahrelanges «Dahinsiechen» in Isolation und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Bereits Mitte des 12. Jahrhunderts hatte die Kirche die Absonderung der «Aussätzigen» angeordnet. Eine Nidwaldner Einrichtung für «Sondersiechen» − so wurden die Bewohnerinnen und Bewohner der abgesondert stehenden Siechenhäuser in zeitgenössischen Quellen genannt – ist in einem Gerichtsurteil von 1496 erstmals erwähnt.
Die älteste Nidwaldner Siechenordnung stammt aus dem Jahr 1560. Sie regelte den Eintritt und Aufenthalt im Siechenhaus: Betroffene mussten mit der Obrigkeit einen Vertrag («Accord») abschliessen und mindesten «einen Hafen, ein ausgerüstet(es) Bett und ein Chessy» mitbringen. Wohlhabende brachten auch Vermögen ein. Ein Siechenvogt war für die Verwaltung zuständig, eine Magd («Siechenjungfrau») besorgte den Haushalt. Vagabundierende Aussätzige («frömbde Siechen») − in jener Zeit noch geduldet – konnten für einen «Schlafpfennig» im Siechenhaus übernachten.
Deutlich zeigen die Siechenordnungen – weitere sind aus den Jahren 1583 und 1596 überliefert – die gesellschaftliche Ausgrenzung der Aussätzigen: Beim Eintritt in die Anstalt verloren die Betroffenen alle Rechte. Sie mussten sich einer strengen Kleider- und Hausordnung unterziehen und sich mit Siechenmänteln und Warninstrumenten erkennbar machen. Ihnen wurden eigene Kirchwege und Badeplätze zugewiesen, sie durften sich nur an den vorgeschriebenen Orten aufhalten.
Die einzelnen Zeugnisse zum Nidwaldner Siechenhaus, die im Staatsarchiv Nidwalden erhalten sind, werden nun durch eine ausführliche Darstellung ergänzt, die der Nidwaldner Regierungsrat und Landesstatthalter Georg Obersteg (1779-1841) im frühen 19. Jahrhundert verfasste. Schon im 1891 publizierten «Versuch einer Geschichte des Nidwaldner Sanitätswesens» hatte der Arzt Constantin von Deschwanden aus der Studie von Obersteg zitiert, das Original galt jedoch als verschollen. Im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts ist das 23-seitige Manuskript nun zum Vorschein gekommen.
Georg Obersteg, jüngster Sohn des Kunstmalers Martin Obersteg d. Ältere, wollte ursprünglich Mönch werden. Wie auch andere Vertreter des Nidwaldner Bildungsbürgertums betrieb er autodidaktische Forschungen und legte so genannte «Miscellaneen» (Miszellen) an, vermischte Abschriften und Aufsätze vornehmlich historischen Inhalts. In seiner Abhandlung über das Nidwaldner Siechenhaus holte er weit aus: Er beschrieb die Herkunft des «Aussatzes» aus dem Orient und widmete ein Kapitel dem Luzerner Siechenhaus, das der Nidwaldner Einrichtung als Vorbild diente. Eingehend studierte er die Rechnungen der Siechenvögte und die Finanzen des Siechenfonds.
Das Nidwaldner Siechenhaus war eine bescheidene staatliche Einrichtung, bestehend aus Haus, Garten und einem Stück Land. Die Bewohnerinnen und Bewohner – an einer Hand abzuzählen – lebten vom Hab und Gut, das sie selber einbrachten sowie von Spenden und Almosen. Auch die Kirche hatte Unterstützungsgelder zu entrichten. Grosszügige Spenden und Schenkungen kamen vor allem von privater Seite. Obersteg rechnete nach, dass das Vermögen des Siechenhauses innerhalb von 150 Jahren von 930 (im Jahr 1620) auf beträchtliche 26'498 Pfund (im Jahr 1781) angewachsen war.
Vermacht wurde dem Siechenhaus auch ein Stück Wald am nahegelegenen Bürgenberg. Anfänglich hatte die Anstalt nur das Recht, Holz für den Eigenbedarf zu schlagen, durch die Schenkung gelangten auch die Erlöse aus dem Holzverkauf in den Siechenfonds. Als das Siechenhaus aufgehoben wurde, blieb der Name «Siechenwald» für den Staatswald bestehen. Sowohl die Armenverwaltungen wie auch das Kantonsspital erhoben Ansprüche auf die stattlichen Erträge.
Mit dem Rückgang der Lepra verlor das Siechenhaus im Niederdorf von Stans seine Bedeutung als Pflegeanstalt für Aussätzige und andere Kranke. Es wird vermutet, dass das ursprüngliche Siechenhaus 1798 dem Einfall der Franzosen zum Opfer fiel. Auf seinem Fundament wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Scharfichterhaus errichtet, das später in die Frauenabteilung («Weiberhaus») der benachbarten Strafanstalt umfunktioniert wurde. 1926 wurde es in ein Wohnhaus umgebaut und 1930 verkauft.
Zusammen mit der historischen Richtstätte, der Galgenkapelle und den Werkgebäuden der alten Strafanstalt steht das ehemalige Henker- und Siechenhaus noch heute in der Fronhofen an der Grenze zu Stansstad. Das architekonische Ensemble erinnert an die jahrhundertealte Praxis, sozial Geächtete und Ausgegrenzte an den Dorfrand zu verbannen – ins einstige Niemandsland, wo früher auch die Hingerichteten und Heimatlosen begraben wurden. Die Nutzungen der Gebäude und des Geländes änderten sich, die gesellschaftliche Prägung des Ortes blieb.
Monika Burri