Stolpersteine und krumme Kantonsgrenzen am Bürgenstock
Seit dem 14. Jahrhundert besitzt die Stadt Luzern ein Stück Land am steilen Nordhang des Bürgenstocks. Der genaue Grenzverlauf zwischen der Luzerner Exklave und dem Nidwaldner Kantonsgebiet gab über die Jahrhunderte immer wieder zu Diskussionen Anlass. So etwa musste im 19. Jahrhundert geprüft werden, warum die Kantonsgrenze bei Kehrsiten «aus der Gräde» gekommen war.
Anfang der 1860er-Jahre ging der Advokat und spätere Nationalrat Robert Durrer (1836-1889), Vater des gleichnamigen Nidwaldner Staatsarchivars, der Frage nach, «wie und wo die ursprüngliche Landmarchlinie zwischen Luzern und Nidwalden bei Kehrsiten bestanden» habe. Auslöser für die Nachforschungen war die Feststellung, dass die Kantonsgrenze bei Kehrsiten «aus der Gräde» gekommen war und eine für Marchlinien untypische Krümmung aufwies. Der Jurist, der auch ein Praktikum im Bundesarchiv absolviert hatte, beschaffte sich die betreffenden Marchakten und unterzog diese einer genauen Prüfung. Sein Rechtsgutachten samt Beilagen, im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts zum Vorschein gekommen, beleuchtet die eigentümliche Grenzziehung am Bürgenstock und diskutiert Gründe und Möglichkeiten, die zum Abweichen der Grenze geführt hatten.
Das Kuriosum einer Luzerner Exklave am Fuss des berühmten Nidwaldner Aussichtsbergs – heute Sitz eines Luxusresorts des katarischen Staatsfonds – geht auf die mittelalterliche Waldnutzung zurück. Der Nordhang des Bürgenbergs eignete sich bestens für die Holzgewinnung und wurde seit alters her von der Stadt Luzern genutzt: Im steilen Gelände konnten die gefällten Bäume zügig «gereistet» – das heisst zu Tal gebracht – und anschliessend über den See weggeflösst werden.
Als die Landleute von Unterwalden nid dem Wald im 14. Jahrhundert ebenfalls Anspruch auf das Gebiet erhoben, entbrannte ein jahrzehntelanger Konflikt, der 1378 durch einen freundeidgenössischen Schiedsspruch beendet wurde. Ein Schiedsgericht, zusammengesetzt aus Gesandten von Uri und Schwyz, bestimmte die Nutzungsrechte und sprach das strittige Waldstück den Luzernern zu. Das Urteil vom 14. Juli 1378 beschrieb auch erstmals den Verlauf der «Landesmarchen», der heutigen Kantonsgrenzen am Bürgenstock.
Der Wortlaut war allerdings nicht eindeutig und gab einige Rätsel auf. So hielt der ursprüngliche Grenzvertrag von 1378 fest, dass die Marchlinie von Kehrsiten «den Hag hinauf» bis zum Grat führe. Dass damit kaum der «krumme Hag» gemeint sein könne, der auf einer Luzerner Marchkarte von 1686 zu sehen ist, erläutert Durrers Untersuchungsbericht. Marchen (Grenzen) wurden, wenn immer möglich, in gerader Linie erstellt. Sie folgten markanten Felsformationen oder anderen Anhaltspunkten, «welche zu Marchzeichen oder für die Richtung der March sehr geeignet, bezeichnend und auch nicht dem Wechsel der Natur unterworfen waren». Die Formulierung «den Hag hinauf» sei im übertragenen Sinn zu verstehen und meine nichts Anderes als «in gerade Linie hinauf bis zum Grat», mutmasste der Experte. Zudem mache die Karte aus dem Luzerner Grenzteilungsprotokoll von 1686 deutlich, dass das vom gekrümmten Zaun umschlossene Gebiet von Nidwalden genutzt wurde.
Den Grund für die schief gewordene Kantonsgrenze fand Durrer schliesslich nicht in den Archivquellen, sondern im Gelände. Ein Marchstein auf dem Grat, in ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts während der Schneeschmelze eingesunken, war bei der Instandsetzung falsch ausgerichtet worden. Statt am unteren Landmarchstein, gekennzeichnet durch die «Ehrenwappen» beider Orte, habe man sich an einem unbeschrifteten «Seitenstein» der Korporation Luzern orientiert. Diese war seit der «Sönderung» von 1822, der Trennung von Staats- und Gemeindegut, Besitzerin des Luzerner Bürgenbergwalds.
Es zeige sich klar, «dass die ursprüngliche Marchlinie zwischen Luzern und Kehrsiten bis 1803 ununterbrochen eine gerade war und dass diese Linie erst in besagten Jahren» abgeändert wurde, folgert das Rechtsgutachten von Robert Durrer. Und: Hätten sich die «gnädigen Herren», die Vertreter Luzerns und Nidwaldens, zur Begehung der Grenze ins Gelände begeben – wie das bei der Erneuerung von Marchakten üblich war - so hätte man die Täuschung schon früher bemerkt.
Monika Burri