Fremdplatzierungen aus Gründen der «Sittlichkeit» und «Nächstenliebe»
Im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts sind im Staatsarchiv Nidwalden über 500 Karteikarten der kantonalen Amtsvormundschaft zum Vorschein gekommen. Sie dokumentieren Fremdplatzierungen von Pflegekindern in den Jahren 1950 bis 1970 und helfen bei der Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.
In den unerschlossenen Akten des Staatsarchivs befand sich ein Stapel mit über 500 Karteikarten der Nidwaldner Amtsvormundschaft. Die mit Schreibmaschine angelegten, teils handschriftlich ergänzten Datenblätter dokumentieren Fremdplatzierungen von Minderjährigen in den Jahren 1950 bis 1970 und geben Auskunft über deren soziale und finanzielle Verhältnisse. Alphabetisch geordnet nach den Namen der Pflegekinder halten sie die Unterbringung in Pflegefamilien oder Kinderheimen fest und listen die Kontrollbesuche der Vormunde oder Beistände auf. In den amtlich geführten Personenkarten zeigt sich auch der gesellschaftliche Kontext, in welchem Fremdplatzierungen angeordnet wurden: Die stichwortartig genannten Gründe für den «Wohnortwechsel» reichen von «Scheidung» und «Tod der Mutter» über «Sittlichkeit» bis hin zu «Nächstenliebe» und «Gutherzigkeit».
Seit 2017 ist die Schweiz daran, ein düsteres Kapitel ihrer Sozialgeschichte aufzuarbeiten. Es geht um die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zugefügt worden ist. Zu den Betroffenen zählen Verdingkinder, Heimkinder, «administrativ Versorgte» in Anstalten ebenso wie Zwangsadoptierte und Personen, die gegen ihren Willen sterilisiert oder kastriert worden sind. Mit dem im April 2017 in Kraft getretenen Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen wurde ein Solidaritätsfonds geschaffen. Betroffene konnten und können weiterhin beim Bundesamt für Justiz ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag einreichen. Zudem hat der Kanton Nidwalden im letzten Jahr ein Forschungsprojekt aufgegleist, um die bedauernswerten Geschehnisse wissenschaftlich auszuleuchten und aufzuarbeiten.
Auf kantonaler Ebene sind fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor allem in den Protokollen und Akten der Vormundschafts- und Armenbehörden zuverlässig dokumentiert. Die Einzelfalldossiers dieser Behörden sind im Staatsarchiv Nidwalden erschlossen und stehen wegen den darin enthaltenen sensiblen Personendaten unter erhöhter Schutzfrist. Betroffene haben das Recht auf Einsicht in ihre Akten. Sie können ein Einsichtsgesuch stellen und werden bei der Suche nach Dokumenten von unserem Kundendienst beraten und aktiv unterstützt.
Um das Schicksal der Betroffenen so umfassend wie möglich zu belegen, veranlasst das Staatsarchiv auch Nachforschungen in den Archiven der involvierten Gemeinden und Institutionen. Dennoch lassen sich nicht alle Einweisungen und Übergriffe lückenlos dokumentieren. Vor allem von privaten Heimen und Einrichtungen sind oft nicht alle Akten erhalten. Die neu erschlossenen Karteikarten sind deshalb ein wichtiger Fund. Sie helfen bei der Rekonstruktion von Pflegekinderbiografien und halten auch Aufenthalte in kaum dokumentierten Institutionen fest, so etwa dem Kinderheim Alpenblick in Hergiswil, von dem bisher nur vereinzelte Unterlagen überliefert sind.
Monika Burri